28 Nisan 2011 Perşembe

Paul Schallück - Unser Eduard

„Er war mein Sohn, mein einziger. Ich begreife es nicht. Sie gehen durchs Haus und flüstern viel, seine Mutter und seine Schwester. Wenn ich heimkomme, verstummen sie. Betrete ich das Zimmer, blicken sie nicht auf. Bei Tisch fällt kaum ein Wort. Sie schweigen mich an, sie strafen mich. Bin ich denn Schuld? War ich zu streng? Ich musste streng sein. Er war sehr begabt, aber verspielt, zu weich; verwöhnt worden von denen, die jetzt schweigen. Als er vierzehn wurde, durfte er mit an die Costa Brava. Von da an übernahm ich seine Erziehung. Er wollte ein Schlauchboot. Ich sagte: Lerne schwimmen, dann bekommst du eins. Er lernte es in einer Woche. So wollte ich ihn vorbereiten auf des Leben. Er musste begreifen, dass ihm nichts geschenkt wurde. Auch mir hat niemand etwas geschenkt. Das sagt ich ihm, als er sechzehn war, wie ich mich abgemüht, den Betrieb aufgebaut, ihn selbständig erhalten hatte. Für ihn. Er wird stolz sein auf seinen Vater, ihm nacheifern, dachte ich. Die Schule fiel ihm leicht. Wenn er Lust hatte, war er der Beste in seiner Klasse. Nur, er hatte nicht immer Lust. Ein Sonnenstrahl konnte ihn ablenken oder ein Buch, ein Schnupfen schon und erst recht ein Fußballänderspiel. Wie besessen lief er Tag für Tag zum Fußballplatz und vergaß die Schulaufgaben. Ich schloss die Fußballschuhe ein, und er lernte wieder, für ein paar Wochen. Dann begann er, Trompete zu blasen. Er schrieb Gedichte, kletterte in die Berge und sammelte Steine, ersparte und erbettelte sich ein Fernrohr und beobachtete die Sterne in langen Nächten, tauschte das Rohr gegen ein Moped ein, raste durch die Gartenstadt, ließ die Maschine verrosten, malte abstrakt, züchtete Fische. Alles für ein paar Wochen. So wechseln viele Jungen ihre Neigungen, ich weiß. Er aber vergaß darüber seine Pflichten.
Er wurde siebzehn und achtzehn und hatte noch immer nicht gelernt, sich zu konzentrieren. Dann entdeckte er die Mädchen und kam zum ersten Male mit einer Fünf nach Haus. Nach jeder erloschenen Begeisterung redete ich ihm ins Gewissen, drohte, kürzte sein Taschengeld, sperrte den Ausgang, nahm ihn während der Osterferien in den Betrieb, ins Labor. Wenn ich ihn ins Gebet nahm, sah er ein, wie fahrig er dahinlebte, jedem Winde nach, und versprach, härter zu werden. Wenn ich ihn strafte, weinte er; ein aufgeschossener, achtzehnjähriger Bursche. Im letzten Sommer dann fuhren seine Mutter und seine Schwester allein an die Costa Brava. Ich blieb mit ihm zu Haus. Wir erarbeiteten einen Stundenplan, und ich erklärte: Deine letzte Chance, Eduard; wirst du nicht in die Oberprima versetzt, nehme ich dich von der Schule. Ein Ultimatum. Ob ich es wahrgemacht hätte, weiß ich nicht. Ihn jedenfalls hat es erschreckt, ich gebe es zu. Aber durfte ich ihn nicht einschüchtern? Wie hätte er sonst ein tüchtiger Mensch werden können und das Leben bestehen? Musste ich denn voraussehen, dass es ihn zermürben würde? Bin ich deswegen schuld an deinem Tod, Eduard? Ich kann es nicht glauben. Du warst ungezügelt von Natur aus, du konntest dich nicht beherrschen. Es war eine Kurzschlusshandlung, Eduard. Ein paar schlechter Noten wegen springt man nicht von der Brücke. Dafür wirft man doch sein Leben nicht weg, Eduard, mein Junge!“
„Edi war mein Junge, mein einziger Sohn, und er war ein guter Junge, das schwöre ich zu Gott, denn wer sollte das besser beurteilen können als ich, seine Mutter, die er verlassen hat, weil er mit einer unergründbaren Leidenschaft eigensinnig war und etwas suchte, schon als kleiner Junge, denn schon als kleiner Junge wollte er alles oder nichts. So war er veranlagt, mein Edi, nicht anders: Alles oder nichts. Wenn sein Vater meint, er sei von Natur aus ungezügelt gewesen und habe sich die neunzehn Jahre seines Lebens nur gehen lassen und sich niemals konzentrieren können, wie es wohl den Anschein haben möchte, wenn man ihn von einem festen Standpunkt aus beobachtete, oder was sein Vater sich sonst noch bereitgelegt hat, um das Ungeheure zu erklären, dann kann ich nur sagen: Sein Vater folgt einer falschen Spur. Edi war ein ernster Junge, viel zu ernst sogar für sein Alter, und er war es von Kind an, ich habe ihn nur selten lachen gesehen, denn, obwohl es schien, als flattere er jedem Winde nach, war er doch jedes Mal mit einem Ernst am Werk, der mich besorgt und ihn besessen machte. Er suchte etwas, von dem ich lange nicht ahnte, was es war, bis er eines Tages, er mochte zehn gewesen sein oder elf, aus der Kirche kam und sagte, sehr ernst, aber ohne ein Zeichen der Erregung: "Weißt du, Mutter, ich könnte mir das Leben nehmen.’ Ich war verblüfft und erschrocken und habe ihn ausgelacht, sodass er wütend wurde und mich anfuhr: "Lach nicht, lach nicht, ich könnte mir wirklich das Leben nehmen!’ – "Aber warum denn, mein Junge?’ fragte ich dann endlich. Und er blickte mich an wie ein sehr alter Mann: "Um zu wissen, wer Gott ist’, sagte er. Ich hatte das vergessen. Jetzt sehe ich ihn wieder vor mir und höre ihn sprechen, und ich glaube fest, dass er wahrgemacht hat, worüber ich gelacht habe. Mit Verbissenheit hat er gesucht, sein Leben lang und überall, einen Halt meinetwegen, wenngleich ich behaupte: Er hat Gott gesucht, überall, in seinen Gedichten so gut wie auf dem Fußballplatz, in der Geschwindigkeit seines Mopeds und in den Steinen und unter den Sternen und in der Farbe und unter den Fischen und in der Musik. Auch bei den Mädchen. Gesucht und gesucht und doch nicht recht gewusst, was er zu finden hoffte in alldem, was ihn reizte und so rasch hinter ihm zurückblieb, ausgelaugt und weggeworfen, weil er nicht fand, was er suchte, und da er sich vermutlich des Satzes nicht erinnerte, den ich ihn noch immer sprechen höre. Die schlechten Noten haben damit wenig zu schaffen. Denn am Morgen hatte der Mathematiklehrer ihnen das Einsteinsche Weltbild erklärt und gesagt, die Welt sei endlos, aber nicht unbegrenzt, oder so ähnlich, und Edi hatte zugehört wie einem neuen Evangelium und dann mit kalter Stimme gefragt, wo denn in dieser Welt Gott noch seinen Platz habe, und der Mathematiklehrer hatte ihn lächelnd an den Religionslehrer verwiesen, und am Mittag dann hat er sich von den Schulkameraden gelöst und ist allein zur Brücke gegangen und hat das Letzte versucht, um zu finden, was er suchte. Du wolltest alles oder nichts, Edi, mein Junge, aber das war nicht richtig, es lässt sich ja nicht zwingen, ein bisschen Demut hat dir gefehlt und ein bisschen Vertrauen zu deiner Mutter, warum bist du nicht zu mir gekommen, Edi, warum nicht, warum denn nicht zu deiner Mutter, Edi?“
„Ed, mein kleiner Bruder, war ein Junge wie andere, ein bisschen begabter vielleicht und feiner gesponnen, das war aber auch der einzige Unterschied. Er spielte gern, saß gern auf einer schnellen Maschine, wechselte seine Hobbys, tat alles, was andere Jungen tun. Er war ja viel jünger als seine Jahre. Erst als er den Mädchen begegnete, begann seine Not. Er war prächtig gewachsen, der Ed, und er konnte an jeder Hand zehn haben und hatte sie auch. Nur, er war nie zufrieden. Was sie ihm gaben – und das war nicht wenig, es war alles in ihren Augen – , es genügte ihm nicht. Er verlangte mehr, Liebe verlangte er, obwohl er selbst es vermutlich nicht wusste, das Wort jedenfalls gebrauchte er nie. Liebe von Mädchen, die nicht wissen, was das ist. Daran ist er zerbrochen. Er war ja noch nicht ausgereift, geistig, meine ich. In seiner Klasse gab es zwei Mädchen. Die kicherten, als ihm mitgeteilt wurde, es sei nicht sicher, ob er mit den schlechten Noten versetzt werden könne. Das Kichern war sein Verhängnis. Wir achten zu selten auf die kleinen Dinge, ein Wort, ein Blick, eine Geste oder ein Kichern, besonders in Eds Jahren. Die Mädchen haben ihn auf dem Gewissen, aber sie wissen es nicht. Unschuldig wie kleine Tiere.“
„Unsinn. Mein Freund Eddi, mit doppeltem D, der suchte nicht mehr, nirgendwo und nichts, er ließ sich von einem Kichern nicht umwerfen. Der hatte längst gefunden. Er wusste, was er wollte, wie wir alle. Er wusste längst, dass alles keinen Sinn hat. Er probierte noch ein bisschen, mal hier, mal da. Aber es war gleichgültig, ob er auf dem Moped lag oder auf einem Mädchen. Es interessierte ihn so lange, wie es dauerte. Dann war’s vorbei und langweilte ihn. Ich bin genauso, drum weiß ich es. Was er anfasste, gelang, aber es machte ihm keinen Spaß. Es hatte doch alles keinen Sinn. Was soll das alles? Die schlechten Noten hätte er bis zur Versetzung mit der linken Hand korrigiert. Daß er’s an diesem Tag getan hat, war nur, um die Alten auf die falsche Spur zu locken. Der beste Schüler der Klasse verübt Selbstmord ein paar schlechter Noten wegen.
Das ist paradox, das liebte er. Ich beneide ihn, weil er härter war als wir alle, weil er den Mut gehabt hat, wozu ich nie den Mut haben werde. So war unser Eddi, mit doppeltem D.“

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