ALMANCA OKUMA BECERİLERİ
ALMANCA ÖZEL DERS
16 Temmuz 2019 Salı
11 Mayıs 2011 Çarşamba
HEİNRİCH BÖLL
Die Waage der Baleks
Heinrich Böll
Heinrich Böll
İn der Heimat meines Großvaters lebten die meisten Menschen von der Arbeit in den Flachsbrechen. Seit fünf Generationen atmeten sie den Staub ein, der den zerbrochenen Stengeln entsteigt, ließen sich langsam dahinmorden, geduldige und fröhliche Geschlechter, die Ziegenkäse aßen, Kartoffeln, manchmal ein Kaninchen schlachteten; abends spannen und strickten sie in ihren Stuben, sangen, tranken Pfefferminztee und waren glücklich. Tagsüber brachen sie den Flachs in altertümlichen Maschinen, schutzlos dem Staub preisgegeben und der Hitze, die den Trockenöfen entströmte. In ihren Stuben stand ein einziges, schrankartiges Bett, das den Eltern vorbehalten war, und die Kinder schliefen ringsum auf Bänken. Morgens waren ihre Stuben vom Geruch der Brennsuppen erfüllt; an den Sonntagen gab es Sterz, und die Gesichter der Kinder röteten sich vor Freude, wenn sich der schwarze Eichelkaffee an besonders festlichen Tagen hell färbte, immer heller von der Milch, welche die Mutter lächelnd in ihre Kaffeetöpfe goß.
Die Eltern gingen früh zur Arbeit, der Haushalt war den Kindern überlassen: sie fegten die Stube, räumten auf, wuschen das Geschirr und schälten Kartoffeln, kostbare, gelbliche Früchte, deren dünne Schale sie vorweisen mußten, um den Verdacht möglicher Verschwendung oder Leichtfertigkeit zu zerstreuen. Kamen die Kinder aus der Schule, mußten sie in die Wälder gehen und - je nach der Jahreszeit - Pilze und Kräuter sammeln: Waldmeister und Thymian, Kümmel und Pfefferminz, auch Fingerhut, und im Sommer, wenn sie das Heu von ihren mageren Wiesen geerntet hatten, sammelten sie Heublumen. Die Baleks zahlten einen Pfennig fürs Kilo Heublumen, die in der Stadt in den Apotheken für zwanzig Pfennig das Kilo an nervöse Damen verkauft wurden. Kostbar waren die Pilze: sie brachten zwanzig Pfennig das Kilo und wurden in der Stadt in den Geschäften für eine Mark zwanzig gehandelt.
Im Herbst krochen die Kinder weit in die grüne Dunkelheit der Wälder, wenn die Feuchtigkeit die Pilze aus dem Boden treibt, und fast jede Familie hatte ihre Plätze, an denen sie Pilze pflückten, Plätze, die von Geschlecht zu Geschlecht weitergeflüstert wurden. Die Wälder und die Flachsbrechen gehörten nicht den Menschen, die dort arbeiteten, sondern den Baleks, die im Heimatdorf meines Großvaters ein Schloß besaßen. Dort gab es ein kleines Stübchen, gleich neben der Milchküche, in dem Pilze, Kräuter und Heublumen gewogen und bezahlt wurden. Auf dem Tisch stand die große Waage der Baleks, ein altertümliches, verschnörkteltes, mit Goldbronze bemaltes Ding, vor dem schon die Großeltern meines Großvaters gestanden hatten, die Körbchen mit Pilzen, die Papiersäcke mit Heublumen in ihren schmutzigen Kinderhänden, gespannt zusehend, wieviel Gewichte Frau Balek auf die Waage werfen mußte, bis der pendelnde Zeiger genau auf dem schwarzen Strich stand, dieser dünnen Linie der Gerechtigkeit, die jedes Jahr neu gezogen werden mußte. Dann nahm Frau Balek das große Buch mit dem braunen Lederrücken, trug das Gewicht ein und zahlte das Geld aus, Pfennige oder Groschen und sehr, sehr selten einmal eine Mark. Und als mein Großvater ein Kind war, stand dort ein großes Glas mit sauren Bonbons, von denen, die das Kilo eine Mark kosteten, und wenn Frau Balek, die damals über das Stübchen herrschte, gut gelaunt war, griff sie in dieses Glas und gab jedem der Kinder einen Bonbon, und die Gesichter der Kinder röteten sich vor Freude, so wie sie sich röteten, wenn die Mutter an besonderen Tagen Milch in ihre Kaffeetöpfe goß, Milch, die den Kaffee hell färbte, immer heller, bis er blond war wie die Zöpfe der Mädchen.
Eines der Gesetze, welche die Baleks dem Dorf gegeben hatten, hieß: Keiner darf eine Waage im Hause haben! Das Gesetz war schon so alt, daß keiner mehr darüber nachdachte, wann und warum es entstanden war, und es mußte geachtet werden, denn wer es brach, wurde aus den Flachsbrechen entlassen, dem wurden keine Pilze, kein Thymian, keine Heublumen mehr abgenommen, und die Macht der Baleks reichte so weit, daß auch in den Nachbardörfern niemand ihm Arbeit gab, niemand ihm die Kräuter des Waldes abkaufte.
Aber seitdem die Großeltern meines Großvaters als kleine Kinder Pilze gesammelt, sie abgeliefert hatten, damit sie in den Küchen der reichen Prager Leute den Braten würzten oder in Pasteten verbacken werden konnten, seitdem hatte niemand daran gedacht, dieses Gesetz zu brechen: fürs Mehl gab es Hohlmaße, die Eier konnte man zählen, das Gesponnene wurde nach Ellen gemessen, und im übrigen machte die altertümliche, mit Goldbronze verzierte Waage der Baleks nicht den Eindruck, als könnte sie nicht stimmen, und fünf Geschlechter hatten dem auspendelnden schwarzen Zeiger anvertraut, was sie mit kindlichem Eifer im Walde gesammelt hatten.
Mein Großvater war der erste, der kühn genug war, die Gerechtigkeit der Baleks zu prüfen, die im Schloß wohnten, zwei Kutschen fuhren, die jeweils einem Jungen des Dorfes das Studium der Theologie im Prager Seminar bezahlten, bei denen der Pfarrer jeden Mittwoch zum Tarock war, denen der Bezirkshauptmann, das kaiserliche Wappen auf der Kutsche, zu Neujahr seinen Besuch abstattete, und denen der Kaiser den Adel verlieh. Mein Großvater war fleißig und klug: er kroch weiter in die Wälder hinein, als vor ihm die Kinder seiner Sippe gekrochen waren, er drang bis in das Dickicht vor, in dem der Sage nach Bilgan, der Riese, hausen sollte, der dort den Hort der Balderer bewacht.
Aber mein Großvater hatte keine Furcht vor Bilgan: er drang weit in das Dickicht vor, schon als Knabe, brachte große Beute an Pilzen mit, sogar Trüffeln, die Frau Balek mit dreißig Pfennig das Pfund berechnete. Mein Großvater trug alles, was er den Baleks brachte, auf die Rückseite eines Kalenderblatts ein: jedes Pfund Pilze, jedes Gramm Thymian, und mit seiner Kinderschrift schrieb er rechts daneben, was er dafür bekommen hatte; jeden Pfennig kritzelte er hin, von seinem siebten bis zu seinem zwölften Jahr, und als er zwölf war, kam das Jahr 1900, und die Baleks schenkten jeder Familie im Dorf, weil der Kaiser sie geadelt hatte, ein Viertelpfund echten Kaffee, von dem, der aus Brasilien kommt; es gab auch Freibier und Tabak für die Männer, und im Schloß fand ein großes Fest statt; viele Kutschen standen in der Pappelallee, die vom Tor zum Schloß führt. Aber schon vor dem Fest wurde der Kaffee in der kleinen Stube ausgegeben, in der seit fast hundert Jahren die Waage der Baleks stand, die jetzt Balek von Bilgan hießen, weil der Sage nach Bilgan, der Riese, dort ein großes Schloß gehabt haben soll, wo die Gebäude der Baleks stehen. Mein Großvater hat mir oft erzählt, wie er nach der Schule dort hinging, um den Kaffee für vier Familien abzuholen: für die Cechs, die Weidlers, die Vohlas und für seine eigene, die Brüchers. Es war der Nachmittag vor Silvester: die Stuben mußten geschmückt, es mußte gebacken werden, und man wollte nicht vier Jungen entbehren, jeden einzeln den Weg ins Schloß machen lassen, um ein Viertelpfund Kaffee zu holen.
Und so saß mein Großvater auf der kleinen, schmalen Holzbank im Stübchen, ließ sich von Gertrud, der Magd, die fertigen Achtelkilopakete Kaffee vorzählen, vier Stück, und blickte auf die Waage, auf deren linker Schale der Halbkilostein liegengeblieben war; Frau Balek von Bilgan war mit den Vorbereitungen fürs Fest beschäftigt. Und als Gertrud nun in das Glas mit den sauren Bonbons greifen wollte, um meinem Großvater eines zu geben, stellte sie fest, daß es leer war: es wurde jährlich einmal neu gefüllt, faßte ein Kilo zu denen zu einer Mark.
Gertrud lachte, sagte: "Warte, ich hole die neuen", und mein Großvater blieb mit den vier Achtelkilopaketen, die in der Fabrik verpackt und verklebt waren, vor der Waage stehen, auf der jemand den Halbkilostein liegengelassen hatte, und mein Großvater nahm die vier Kaffeepaketchen, legte sie auf die leere Waagschale, und sein Herz klopfte heftig, als er sah, wie der schwarze Zeiger der Gerechtigkeit links neben dem Strich hängenblieb, die Schale mit dem Halbkilostein unten blieb und das halbe Kilo Kaffee ziemlich hoch in der Luft schwebte; sein Herz klopfte heftiger und er suchte aus seiner Tasche Kieselsteine, wie er sie immer bei sich trug, um mit der Schleuder zu schießen - drei, vier, fünf Kieselsteine mußte er neben die vier Kaffeepakete legen, bis die Schale mit dem Halbkilostein sich hob und der Zeiger endlich scharf über dem schwarzen Strich lag.
Gertrud lachte, sagte: "Warte, ich hole die neuen", und mein Großvater blieb mit den vier Achtelkilopaketen, die in der Fabrik verpackt und verklebt waren, vor der Waage stehen, auf der jemand den Halbkilostein liegengelassen hatte, und mein Großvater nahm die vier Kaffeepaketchen, legte sie auf die leere Waagschale, und sein Herz klopfte heftig, als er sah, wie der schwarze Zeiger der Gerechtigkeit links neben dem Strich hängenblieb, die Schale mit dem Halbkilostein unten blieb und das halbe Kilo Kaffee ziemlich hoch in der Luft schwebte; sein Herz klopfte heftiger und er suchte aus seiner Tasche Kieselsteine, wie er sie immer bei sich trug, um mit der Schleuder zu schießen - drei, vier, fünf Kieselsteine mußte er neben die vier Kaffeepakete legen, bis die Schale mit dem Halbkilostein sich hob und der Zeiger endlich scharf über dem schwarzen Strich lag.
Mein Großvater nahm den Kaffee von der Waage, wickelte die fünf Kieselsteine in sein Sacktuch, und als Gertrud mit der großen Kilotüte voll saurer Bonbons kam, die wieder für ein Jahr reichen mußte, um die Röte der Freude in die Gesichter der Kinder zu treiben, als Gertrud die Bonbons rasselnd ins Glas schüttete, stand der kleine blasse Bursche da, und nichts schien sich verändert zu haben. Mein Großvater nahm nur drei von den Paketen, und Gertrud blickte erstaunt und erschreckt auf den blassen Jungen, der den sauren Bonbon auf die Erde warf, ihn zertrat und sagte: "Ich will Frau Balek sprechen!" "Balek von Bilgan, bitte", sagte Gertrud. "Gut, Frau Balek von Bilgan", aber Gertrud lachte ihn aus, so ging er im Dunkeln ins Dorf zurück und brachte den Nachbarn ihren Kaffee.
Aber mit seinen fünf Kieselsteinen im Sacktuch mußte er weit durch die dunkle Nacht gehen, bis er jemand fand, der eine Waage hatte, eine haben durfte.
Aber mit seinen fünf Kieselsteinen im Sacktuch mußte er weit durch die dunkle Nacht gehen, bis er jemand fand, der eine Waage hatte, eine haben durfte.
In den Dörfern Blaugau und Bernau hatte niemand eine, das wußte er, und er schritt durch sie hindurch, bis er nach zweistündigem Marsch in das kleine Städtchen Dielheim kam, wo der Apotheker Honig wohnte. Mein Großvater nestelte sein Sacktuch auf, nahm die fünf Kieselsteine heraus, hielt sie Honig hin und sagte: "Ich wollte das gewogen haben." Ängstlich blickte er in Honigs Gesicht, aber als Honig nichts sagte, nicht zornig wurde, auch nicht fragte, sagte mein Großvater: "Es ist das, was an der Gerechtigkeit fehlt", und mein Großvater spürte jetzt, als er in die warme Stube kam, wie naß seine Füße waren. Der Schnee war durch die schlechten Schuhe gedrungen, und im Wald hatten die Zweige den Schnee über ihn geschüttelt, der jetzt schmolz, und er war müde und hungrig und fing plötzlich an zu weinen, weil ihm die vielen Pilze einfielen, die Kräuter, die Blumen, die auf der Waage gewogen worden waren, an der das Gewicht von fünf Kieselsteinen an der Gerechtigkeit fehlte.
Und als Honig, den Kopf schüttelnd, die fünf Kieselsteine in der Hand, seine Frau rief, fielen meinem Großvater die Geschlechter seiner Eltern, seiner Großeltern ein, die alle ihre Pilze und Blumen auf der Waage hatten wiegen lassen, und es kam über ihn wie eine große Woge von Ungerechtigkeit, und er fing noch heftiger an zu weinen, setzte sich, ohne dazu aufgefordert zu sein, auf einen der Stühle in Honigs Stube, übersah den Pfannkuchen, die heiße Tasse Kaffee, die Frau Honig ihm vorsetzte, und hörte erst auf zu weinen, als Honig selbst aus dem Laden vorn zurückkam und, die Kieselsteine in der Hand schüttelnd, leise zu seiner Frau sagte: "Fünfeinhalb Deka, genau." Mein Großvater ging die zwei Stunden durch den Wald zurück, ließ sich prügeln zu Hause, schwieg, als er nach dem Kaffee gefragt wurde, sagte kein Wort, rechnete den ganzen Abend an seinem Zettel herum, auf dem er alles notiert hatte, und als es Mitternacht schlug, vom Schloß die Böller zu hören waren, im ganzen Dorf das Geschrei, das Klappern der Rasseln erklang, als die Familie sich geküßt, sich umarmt hatte, sagte er in das folgende Schweigen des neuen Jahres hinein: "Baleks schulden mir achtzehn Mark und zweiunddreißig Pfennig". Und wieder dachte er an die vielen Kinder, die alle für die Baleks Pilze gesammelt hatten, Kräuter und Blumen, und er weinte diesmal nicht, sondern erzählte seinen Eltern und Geschwistern von seiner Entdeckung.
Als die Baleks von Bilgan am Neujahrstag vom Hochamt in die Kirche kamen, das neue Wappen in Blau und Gold - einen Riesen, der unter einer Fichte kauert - schon auf ihrem Wagen, blickten sie in die harten, blassen Gesichter der Leute, die alle auf sie starrten. Sie hatten im Dorf Girlanden erwartet, am Morgen ein Ständchen, Hoch- und Heilrufe, aber das Dorf war wie ausgestorben gewesen, als sie hindurchfuhren, und in der Kirche wandten sich ihnen die Gesichter der blassen Leute zu, stumm und feindlich, und als der Pfarrer auf die Kanzel stieg, um die Festpredigt zu halten, spürte er die Kälte der sonst so stillen und friedlichen Gesichter.
Mühsam stoppelte er seine Predigt herunter und ging schweißtriefend zurück zum Altar. Als die Baleks von Bilgan nach der Messe die Kirche wieder verließen, gingen sie durch ein Spalier stummer, blasser Gesichter. Die junge Frau Balek von Bilgan blieb vorn bei den Kinderbänken stehen, suchte das Gesicht meines Großvaters, des kleinen blassen Franz Brücher, und fragte ihn in der Kirche: "Warum hast du den Kaffee für deine Mutter nicht mitgenommen?" Und mein Großvater stand auf und sagte: "Weil Sie mir noch so viel Geld schulden, wie fünf Kilo Kaffee kosten." Und er zog die fünf Kieselsteine aus seiner Tasche, hielt sie der jungen Frau hin und sagte: "So viel, fünfeinhalb Deka, fehlen auf ein halbes Kilo an ihrer Gerechtigkeit"; und noch ehe die Frau etwas sagen konnte, stimmte die Gemeinde in der Kirche ein Lied an.
Während die Baleks in der Kirche waren, war Wilhelm Vohla, der Wilderer, in das kleine Stübchen eingedrungen, hatte die Waage gestohlen und das große, dicke, in Leder eingebundene Buch, in dem jedes Kilo Pilze, jedes Kilo Heublumen, alles eingetragen war, was von den Baleks im Dorf gekauft worden war. Den ganzen Nachmittag des Neujahrtags saßen die Männer des Dorfs in der Stube meiner Urgroßeltern und rechneten, rechneten ein Zehntel von allem, was gekauft worden war. Als sie schon viele tausend Taler errechnet hatten und noch immer nicht zu Ende waren, kamen die Gendarmen des Bezirkshauptmanns, drangen schießend und stechend in die Stube meines Urgroßvaters ein und holten mit Gewalt die Waage und das Buch heraus. Die Schwester meines Großvaters wurde dabei getötet, die kleine Ludmilla, ein paar Männer verletzt, und einer der Gendarmen wurde von Wilhelm Vohla, dem Wilderer, erstochen.
Es gab Aufruhr nicht nur in unserem Dorf, auch in Blaugau und Bernau, und fast eine Woche lang ruhte die Arbeit in den Flachsfabriken. Es kamen sehr viele Gendarmen, und die Männer und Frauen wurden mit Gefängnis bedroht. Die Baleks von Bilgan zwangen den Pfarrer, öffentlich in der Schule die Waage vorzuführen und zu beweisen, daß der Zeiger der Gerechtigkeit richtig auspendelte. Und die Leute gingen wieder in die Flachsbrechen - aber niemand ging in die Schule, um den Pfarrer anzusehen, der ganz allein dastand, hilflos und traurig mit seinen Gewichtssteinen, der Waage und den Kaffeetüten.
Und die Kinder sammelten wieder Pilze, Thymian, Blumen und Fingerhut, aber jeden Sonntag, sobald die Baleks von Bilgan die Kirche betraten, stimmte die Gemeinde das Lied an: "Gerechtigkeit der Erden, o Herr, hat Dich getötet" - bis der Bezirkshauptmann in allen Dörfern austrommeln ließ, daß das Singen dieses Lieds verboten wäre.
Und die Kinder sammelten wieder Pilze, Thymian, Blumen und Fingerhut, aber jeden Sonntag, sobald die Baleks von Bilgan die Kirche betraten, stimmte die Gemeinde das Lied an: "Gerechtigkeit der Erden, o Herr, hat Dich getötet" - bis der Bezirkshauptmann in allen Dörfern austrommeln ließ, daß das Singen dieses Lieds verboten wäre.
Die Eltern meines Großvaters mußten das Dorf und das frische Grab ihrer kleinen Tochter verlassen. Sie wurden Korbflechter, blieben an keinem Ort lange, weil es sie schmerzte, zuzusehen, wie in allen Orten das Pendel der Gerechtigkeit falsch ausschlug. Sie zogen hinter dem Wagen, der langsam über die Landstraße kroch, ihre magere Ziege mit. Und wer ihnen zuhören wollte, konnte die Geschichte von den Baleks von Bilgan hören, an deren Gerechtigkeit ein Zehntel fehlte. Aber es hörte ihnen fast niemand zu ...
30 Nisan 2011 Cumartesi
Das Brot İnterpraetation
Die Kurzgeschichte �Das Brot� von Wolfgang Borchert geschrieben in der Nachkriegszeit um 1946 handelt von einer Frau, die ihren Mann beim Essen von rationiertem Brot ertappt.
Der Mann schleicht sich heimlich nachts um halb drei aus dem gemeinsamen Schlafzimmer und schneidet sich eine Scheibe des rationierten Brotes aus Hunger ab. Hierbei hinterlässt er jedoch eindeutige Krümelspuren. Die Frau, die durch die entstandenen Geräusche wach wird und die Küche aufsucht, durchschaut die Ausreden des Mannes, fügt sich allerdings der Lüge, indem sie versucht die Situation schnellst möglich zu beenden. Am nächsten Tag gibt sie ihrem Mann eine Scheibe ihres Brotes mit der Begründung, dass sie das Brot nicht mehr vertrage, ab.
Diese Kurzgeschichte von Wolfgang Borchert kann in drei Teile unterschieden werden. Im ersten Abschnitt werden die Handlungen und Wahrnehmungen der Frau beschrieben (Z. 1-24). Auch wird hier die kalte und bedrückte Atmosphäre beschrieben (Z. 24 �die Kälte der Fliesen�). Die Kälte wird später als Aufhänger zum wieder ins Bett gehen genannt (Z.51-52). Auch im Schlafzimmer wird über diese weiter gesprochen, bevor sich die Frau tief in die eigene Decke hüllt (Z. 76-78). Die Kälte steht für die Gefühlskälte, die die Frau erfährt, als später den Vertrauensbruch Ihres Mannes bemerkt. Das sie sich gegenseitig mustern, bevor sie miteinander sprechen ist ein Indiz dafür dass sie sich selten zum einen nachts im Hemd sehen, zum anderen aber auch dafür, dass sie sich nur einseitig, nämlich nur tagsüber, genaustens kennen. Eine gewisse Gewohnheit hat sich nach 39 Ehejahren eingespielt. Sie vermisst zwar seinen Atem, hat aber nie festgestellt, dass ihr Ehemann im äußeren Erscheinungsbild älter geworden ist.
Im zweiten Teil wird die Situation in der Küche beschrieben (Z. 25-65). Nachdem die Frau die Küche betreten hatte, sieht sie ihren Mann im Hemd vor ihr stehen. Ihr Blick fällt jedoch immer wieder zu dem Brotteller und zu den Krümeln, die auf dem Tischtuch verteilt sind (Z. 20 ff.). Diese verraten die Tat ihres Mannes. Das Brot steht für die gesamte Materielle Not im Nachkriegsdeutschland. Das rationierte Brot und auch die Krümel verkörpern so eine gewisse Armut. Auch ist das Brot ein Symbol für das damalige alltägliche und auch gewohnheitsmäßige Teilen der Grundnahrungsmittel. Weiterhin spiegelt sich im Symbol des Brotes die Beziehun des Ehepaars wieder. Zwischen ihnen herrscht eine gewisse Distanz, die sich im Laufe ihrer Ehe aufgebaut hat. Allerdings empfindet die Frau auch Mitleid für ihren Mann.
Der Mann wird von seiner Frau auf frischer Tat ertappt. Er merkt höchst wahrscheinlich, dass sie die Situation und ihn durchschaut. Statt dass er zugibt, dass er plötzlich Hunger gehabt habe und etwas Brot gegessen habe, erfindet er eine unglaubwürdige Ausrede, die seine Frau ihm nahe liegt, obwohl sie ich klar �entlarvt� hat. In der Frau muss so unausweichlich die Vermutung aufkommen, dass ihr Mann seinen, in gewissen Maßen, Diebstahl geplant hat. Er hat lediglich gewartet, bis seine Frau eingeschlafen war, um dann heimlich in die Küche zu schleichen, um seinen Hunger zu stillen.
Die Frau schweigt jedoch und spricht nicht über ihren Verdacht. Aus diesem Grund finde ich, dass sie den Anschein erweckt, als ob sie unfähig zum Streit mit ihrem Mann ist. Vielleicht vermeidet sie den direkten und offenen Konflikt aus bestimmten Gründen. Sie könnte zum Beispiel von ihrem Mann materiell abhängig sein.
Ihr Verhalten passt jedoch in den historischen Rahmen. In der Zeit von 1946 wurde es vermieden, seine eigenen Gefühle nach außen zuzeigen. In der Nachkriegszeit versuchten die Menschen Konflikten aus dem Weg zu gehen, als sie zu lösen.
Wenn uns daher das Verhalten der Frau aus heutiger Sicht als Zeichen für Konfliktscheuheit erscheint, so ist es möglich, dass der Autor dieses Verhalten ganz anders gesehen hat.
Weiterhin versucht die Frau diese Situation so schnell wie möglich zu beenden, da sie den Anblick des Tellers - quasi die Lüge ihres Mannes - nicht mehr ertragen kann wendet sie sich ab und betätigt den Lichtschalter um das Licht zu löschen.
Das Licht symbolisiert die Wahrheit, die Beide kennen, allerdings die keiner traut auszusprechen. Daher betätigt die Frau den Lichtschalter, um die Wahrheit zu verdecken.
Der Lichtschalter ist metaphorisch gesehen der Notschalter, den die Frau betätigt um so die Situation in der Küche zu beenden. Dies gelingt ihr auch zunächst, da sie und ihr Mann wieder in das Schlafzimmer zu Bett gehen (Z. 63-65). Erst als ihr Mann zu kauen beginnt (Z. 80-81) wird sie wieder an die Lüge erinnert, versucht den Konflikt aber durch nichts tun zu umgehen (Z.81-83).
Der dritte und letzte Teil (Z. 66-Ende) der Kurzgeschichte spielt am folgenden Tag. Beim gemeinsamen Abendessen gibt die Frau ihrem Mann eine Scheibe, von ihren rationierten Brotscheiben ab. Dies begründet sie jedoch nicht mit dem Hunger des Mannes, sonder verstrickt sich weiter in Lügen und gibt an, dass ihr das Brot nicht mehr bekomme (Z. 90-91). Dies ist für den Mann jedoch eine genauso offensichtliche Lüge, wie seine am vorigen Abend. Lediglich ein Rollentausch des Lügners und der angelogenen Person hat stattgefunden.
Das Licht, unter welches Beide sich zum Abendessen setzen, symbolisiert auch hier die Wahrheit. Der Mann wurde von ihr in der Küche, zunächst im Dunklen, dann im Lichtschein ertappt. An diesem Tag ertappt er seine Frau direkt im Lichtschein. Somit spiegelt sich auch hier die Wiederholung der Lüge, nur mit vertauschten Rollen, wieder.
Borcherts Geschichte spielt in einer begrenzten Zeit, von weniger als 24 Stunden. Auch spielen die einzelnen Szenen an nur wenigen Schauplätzen, nämlich nur im Schlafzimmer, in der Küche und, im eingeschränkten Sinne, auch im Korridor.
Die Geschichte wird in kurzen und einfachen Sätzen wiedergegeben. Mir ist besonders aufgefallen, dass die Geschichte zum einen viele Wiederholungen ("Es war halb drei", "Die Uhr war halb drei.", "Um halb drei.�) zum anderen aber auch einige elliptische Sätze ("Nachts. Um halb drei. In der Küche") enthält. Auch ist der Wortschatz auf das Wesentliche begrenzt. Es werden lediglich einfache und alltägliche Worte benutzt.
Der Eindruck von Einfachheit und der distanzierten Atmosphäre wird zusätzlich dadurch verstärkt, dass weder die Namen des Ehepaars genannt werden noch ihr Aussehen im Detail beschrieben wird.
Meiner Ansicht nach wählte Borchert das auktoriale Erzählen als Erzählperspektive. Dies erkennt man daran, dass der Autor zwischen den Gedanken bzw. zwischen den Inneren Monologen der beiden Personen hin- und her wechselt. Zu Anfang sehen wir die Situation aus Sicht der Frau: "Sie überlegte, warum sie aufgewacht war. (Z. 2)" In der Küche wird das Geschehen aber aus der Sicht des Mannes: "Sie sieht doch schon alt aus, dachte er... (Z. 31)� beschrieben.
Bemerkenswert ist, dass Borchert es auf keinen übertriebenen Spannungshöhepunkt an legt. Es wird eher eine Szene aus dem damaligen Alltag mit gleich bleibender Spannung geschildert. Diese Situation, die vielleicht den Anschein eines banalen Gestchens erweckt, soll uns die Situation im Nachkriegsdeutschland verdeutlichen.
Meiner Ansicht nach, ist "Das Brot" die Geschichte eines Verrates. Durch die Lüge gegenüber seiner Frau und seine Heimlichkeit, das er nachts in die Küche zum Essen geht, betrügt er seine Frau und bricht bzw. verrät das Vertrauen in ihrer Beziehung. Statt einfach, ohne Erlaubnis sich das rationierte Brot zu klauen hätte er seine Frau beim nächsten Abendessen um etwas mehr Brot bitten können.
Dadurch, dass sie ihm am nächsten Abend eine Scheibe ihres Brots abgibt, macht sie ihm deutlich, dass sie gerne dazu bereit gewesen wäre. Diese Tat der Frau weckt in ihrem Mann auch Schamgefühl und Peinlichkeit.
Allerdings auf der anderen Seite spiegelt die Geschichte das Verhalten auf ein Unrecht wieder. Die Frau stellt ihren Ehemann nicht zur Rede und verurteilt ihn auch nicht wegen seines begangenen Unrechts. Ob sie dies absichtlich nicht tut wird in der Geschichte nicht erwähnt. Keiner von Beiden spricht oder erwähnt das Thema, dass er mehr Hunger hat und gerne noch eine Scheibe Brot mehr hätte.
Diese gewisse Sprachlosigkeit ist anscheinend charakteristisch für diese Zeit, nach dem Nationalsozialismus.
von Stefan Sommer
Der Mann schleicht sich heimlich nachts um halb drei aus dem gemeinsamen Schlafzimmer und schneidet sich eine Scheibe des rationierten Brotes aus Hunger ab. Hierbei hinterlässt er jedoch eindeutige Krümelspuren. Die Frau, die durch die entstandenen Geräusche wach wird und die Küche aufsucht, durchschaut die Ausreden des Mannes, fügt sich allerdings der Lüge, indem sie versucht die Situation schnellst möglich zu beenden. Am nächsten Tag gibt sie ihrem Mann eine Scheibe ihres Brotes mit der Begründung, dass sie das Brot nicht mehr vertrage, ab.
Diese Kurzgeschichte von Wolfgang Borchert kann in drei Teile unterschieden werden. Im ersten Abschnitt werden die Handlungen und Wahrnehmungen der Frau beschrieben (Z. 1-24). Auch wird hier die kalte und bedrückte Atmosphäre beschrieben (Z. 24 �die Kälte der Fliesen�). Die Kälte wird später als Aufhänger zum wieder ins Bett gehen genannt (Z.51-52). Auch im Schlafzimmer wird über diese weiter gesprochen, bevor sich die Frau tief in die eigene Decke hüllt (Z. 76-78). Die Kälte steht für die Gefühlskälte, die die Frau erfährt, als später den Vertrauensbruch Ihres Mannes bemerkt. Das sie sich gegenseitig mustern, bevor sie miteinander sprechen ist ein Indiz dafür dass sie sich selten zum einen nachts im Hemd sehen, zum anderen aber auch dafür, dass sie sich nur einseitig, nämlich nur tagsüber, genaustens kennen. Eine gewisse Gewohnheit hat sich nach 39 Ehejahren eingespielt. Sie vermisst zwar seinen Atem, hat aber nie festgestellt, dass ihr Ehemann im äußeren Erscheinungsbild älter geworden ist.
Im zweiten Teil wird die Situation in der Küche beschrieben (Z. 25-65). Nachdem die Frau die Küche betreten hatte, sieht sie ihren Mann im Hemd vor ihr stehen. Ihr Blick fällt jedoch immer wieder zu dem Brotteller und zu den Krümeln, die auf dem Tischtuch verteilt sind (Z. 20 ff.). Diese verraten die Tat ihres Mannes. Das Brot steht für die gesamte Materielle Not im Nachkriegsdeutschland. Das rationierte Brot und auch die Krümel verkörpern so eine gewisse Armut. Auch ist das Brot ein Symbol für das damalige alltägliche und auch gewohnheitsmäßige Teilen der Grundnahrungsmittel. Weiterhin spiegelt sich im Symbol des Brotes die Beziehun des Ehepaars wieder. Zwischen ihnen herrscht eine gewisse Distanz, die sich im Laufe ihrer Ehe aufgebaut hat. Allerdings empfindet die Frau auch Mitleid für ihren Mann.
Der Mann wird von seiner Frau auf frischer Tat ertappt. Er merkt höchst wahrscheinlich, dass sie die Situation und ihn durchschaut. Statt dass er zugibt, dass er plötzlich Hunger gehabt habe und etwas Brot gegessen habe, erfindet er eine unglaubwürdige Ausrede, die seine Frau ihm nahe liegt, obwohl sie ich klar �entlarvt� hat. In der Frau muss so unausweichlich die Vermutung aufkommen, dass ihr Mann seinen, in gewissen Maßen, Diebstahl geplant hat. Er hat lediglich gewartet, bis seine Frau eingeschlafen war, um dann heimlich in die Küche zu schleichen, um seinen Hunger zu stillen.
Die Frau schweigt jedoch und spricht nicht über ihren Verdacht. Aus diesem Grund finde ich, dass sie den Anschein erweckt, als ob sie unfähig zum Streit mit ihrem Mann ist. Vielleicht vermeidet sie den direkten und offenen Konflikt aus bestimmten Gründen. Sie könnte zum Beispiel von ihrem Mann materiell abhängig sein.
Ihr Verhalten passt jedoch in den historischen Rahmen. In der Zeit von 1946 wurde es vermieden, seine eigenen Gefühle nach außen zuzeigen. In der Nachkriegszeit versuchten die Menschen Konflikten aus dem Weg zu gehen, als sie zu lösen.
Wenn uns daher das Verhalten der Frau aus heutiger Sicht als Zeichen für Konfliktscheuheit erscheint, so ist es möglich, dass der Autor dieses Verhalten ganz anders gesehen hat.
Weiterhin versucht die Frau diese Situation so schnell wie möglich zu beenden, da sie den Anblick des Tellers - quasi die Lüge ihres Mannes - nicht mehr ertragen kann wendet sie sich ab und betätigt den Lichtschalter um das Licht zu löschen.
Das Licht symbolisiert die Wahrheit, die Beide kennen, allerdings die keiner traut auszusprechen. Daher betätigt die Frau den Lichtschalter, um die Wahrheit zu verdecken.
Der Lichtschalter ist metaphorisch gesehen der Notschalter, den die Frau betätigt um so die Situation in der Küche zu beenden. Dies gelingt ihr auch zunächst, da sie und ihr Mann wieder in das Schlafzimmer zu Bett gehen (Z. 63-65). Erst als ihr Mann zu kauen beginnt (Z. 80-81) wird sie wieder an die Lüge erinnert, versucht den Konflikt aber durch nichts tun zu umgehen (Z.81-83).
Der dritte und letzte Teil (Z. 66-Ende) der Kurzgeschichte spielt am folgenden Tag. Beim gemeinsamen Abendessen gibt die Frau ihrem Mann eine Scheibe, von ihren rationierten Brotscheiben ab. Dies begründet sie jedoch nicht mit dem Hunger des Mannes, sonder verstrickt sich weiter in Lügen und gibt an, dass ihr das Brot nicht mehr bekomme (Z. 90-91). Dies ist für den Mann jedoch eine genauso offensichtliche Lüge, wie seine am vorigen Abend. Lediglich ein Rollentausch des Lügners und der angelogenen Person hat stattgefunden.
Das Licht, unter welches Beide sich zum Abendessen setzen, symbolisiert auch hier die Wahrheit. Der Mann wurde von ihr in der Küche, zunächst im Dunklen, dann im Lichtschein ertappt. An diesem Tag ertappt er seine Frau direkt im Lichtschein. Somit spiegelt sich auch hier die Wiederholung der Lüge, nur mit vertauschten Rollen, wieder.
Borcherts Geschichte spielt in einer begrenzten Zeit, von weniger als 24 Stunden. Auch spielen die einzelnen Szenen an nur wenigen Schauplätzen, nämlich nur im Schlafzimmer, in der Küche und, im eingeschränkten Sinne, auch im Korridor.
Die Geschichte wird in kurzen und einfachen Sätzen wiedergegeben. Mir ist besonders aufgefallen, dass die Geschichte zum einen viele Wiederholungen ("Es war halb drei", "Die Uhr war halb drei.", "Um halb drei.�) zum anderen aber auch einige elliptische Sätze ("Nachts. Um halb drei. In der Küche") enthält. Auch ist der Wortschatz auf das Wesentliche begrenzt. Es werden lediglich einfache und alltägliche Worte benutzt.
Der Eindruck von Einfachheit und der distanzierten Atmosphäre wird zusätzlich dadurch verstärkt, dass weder die Namen des Ehepaars genannt werden noch ihr Aussehen im Detail beschrieben wird.
Meiner Ansicht nach wählte Borchert das auktoriale Erzählen als Erzählperspektive. Dies erkennt man daran, dass der Autor zwischen den Gedanken bzw. zwischen den Inneren Monologen der beiden Personen hin- und her wechselt. Zu Anfang sehen wir die Situation aus Sicht der Frau: "Sie überlegte, warum sie aufgewacht war. (Z. 2)" In der Küche wird das Geschehen aber aus der Sicht des Mannes: "Sie sieht doch schon alt aus, dachte er... (Z. 31)� beschrieben.
Bemerkenswert ist, dass Borchert es auf keinen übertriebenen Spannungshöhepunkt an legt. Es wird eher eine Szene aus dem damaligen Alltag mit gleich bleibender Spannung geschildert. Diese Situation, die vielleicht den Anschein eines banalen Gestchens erweckt, soll uns die Situation im Nachkriegsdeutschland verdeutlichen.
Meiner Ansicht nach, ist "Das Brot" die Geschichte eines Verrates. Durch die Lüge gegenüber seiner Frau und seine Heimlichkeit, das er nachts in die Küche zum Essen geht, betrügt er seine Frau und bricht bzw. verrät das Vertrauen in ihrer Beziehung. Statt einfach, ohne Erlaubnis sich das rationierte Brot zu klauen hätte er seine Frau beim nächsten Abendessen um etwas mehr Brot bitten können.
Dadurch, dass sie ihm am nächsten Abend eine Scheibe ihres Brots abgibt, macht sie ihm deutlich, dass sie gerne dazu bereit gewesen wäre. Diese Tat der Frau weckt in ihrem Mann auch Schamgefühl und Peinlichkeit.
Allerdings auf der anderen Seite spiegelt die Geschichte das Verhalten auf ein Unrecht wieder. Die Frau stellt ihren Ehemann nicht zur Rede und verurteilt ihn auch nicht wegen seines begangenen Unrechts. Ob sie dies absichtlich nicht tut wird in der Geschichte nicht erwähnt. Keiner von Beiden spricht oder erwähnt das Thema, dass er mehr Hunger hat und gerne noch eine Scheibe Brot mehr hätte.
Diese gewisse Sprachlosigkeit ist anscheinend charakteristisch für diese Zeit, nach dem Nationalsozialismus.
von Stefan Sommer
Wolfgang Borchert: ,,Das Brot" (1946)
Vor dem Hintergrund des Kriegsendes und einer vom Krieg gezeichneten Trümmerlandschaft , durch die die Menschen der damaligen Zeit mit zahlreichen existentiellen, moralischen und politischen Fragen und Problemen konfrontiert wurden, verdeutlicht Wolfgang Borchert mit seiner 1946 entstandenen Kurzgeschichte ,,Das Brot" die zerstörende und das Leben jedes einzelnen bedrohenden Auswirkung des Krieges auf den privaten Alltag und die Lebensbedingungen der Menschen.
Anhand eines in Zeiten der Entbehrung und der materiellen wie auch existentiellen Not lebenden Ehepaares veranschaulicht Borchert auf indirektem Wege - eine direkte Benennung von Kriegs- oder Nachkriegsrealität erfolgt nicht, sie muß vielmehr vom Leser durch den Hinweis auf eine Zeit der Hungersnöte und der Lebensmittelrationierung (vgl. 53ff.) erschlossen werden - die zerstörenden Folgen des Krieges auf das Verhältnis dieser beiden Menschen zueinander. Im Mittelpunkt der Geschichte und als einziges Gegenbild zu dieser zerstörenden Wirkung steht das Verhalten der Frau, die mit ihrer verzeihenden und mitleidenden Geste als Ausdruck ihrer wahren Liebe oder Humanität ein Gefühl von Harmonie und Geborgenheit erzeugt: Trotz der Gewißheit, daß ihr Mann sie mit seinem Verhalten hintergangen und belogen hat, stellt sie ihn nicht bloß und verlangt ein Geständnis seiner Tat, sondern erkennt die für den Mann und sie selber beschämende Situation ,geht deshalb rücksichtsvoll auf seine Lüge ein und verzeiht ihm seine aus der Not des Hungers erfolgte Tat.
,,Plötzlich wachte sie auf". Mit diesem parataktischen Satz, der den Leser völlig unmittelbar, abrupt und ohne Einleitung mit dem Geschehen konfrontiert, läßt Borchert seine die krisenhafte Situation der beiden Eheleute ausschnitthaft darstellenden Kurzgeschichte beginnen. Er unterstreicht damit einerseits, daß es sich bei dem Dargestellten um ein für den einzelnen bedeutungsvolles und besonderes Ereignis handelt, welches sich ihm als plötzliche Grenzsituation auftut und eine Entscheidung zum Handeln erfordert, anderseits wird mit dieser Darstellungsweise auch eine gewisse Spannung und ein Interesse am Weiterlesen geschaffen.
Das Aufwachen der Frau erscheint hierbei gleichzeitig im übertragenen Sinne, nicht nur als ein Aufwachen durch ein Geräusch in der Küche hervorgerufen.
Denn genauso ,,plötzlich" muß sich die Frau damit konfrontiert sehen, daß sie von ihrem Mann hintergangen worden ist, wenn ihr in der Küche bewußt wird, wie er heimlich etwas von dem rationierten Brot genommen hat.
Das Licht, welches die Frau infolge der Dunkelheit anmacht und welches die Gestalten beider Ehepartner beleuchtet, sie in ihrer Beziehung zueinander gegenüberstellt, erscheint somit gleichsam als symbolisches Licht, das auf die Gemeinschaft der nunmehr schon seit neununddreißig Jahren verheiraten Menschen fällt.
Die Frau erkennt anhand ,,der Krümel auf dem Tuch" (Z.12), daß sich der Mann von dem ,,Brot abgeschnitten hatte" (Z.9f.), wie sie es auch später durch sein leises und vorsichtiges Kauen (vgl.Z.49) erkennen muß. Sie ist sich demnach bewußt, von ihrem Ehemann hintergangen und belogen worden zu sein. Zunächst ist es für die Frau ein Bewußtsein, welches sie völlig unvorbereitet gewahr wird und das in ihr ein Gefühl von Kälte erzeugt; ein Gefühl von Kälte, das symbolisch das mangelnde Vertrauen des Mannes und damit die fehlende Offenheit betont , welches der Frau als befremdlich, als Kälte in ihrer Beziehung erscheint.
Dennoch beabsichtigt sie in dieser Situation nicht, ihren Mann bloßzustellen, sondern sieht aus Liebe zu ihrem Mann ,,von dem Teller weg" (Z.13f.), um ihm nicht zu verletzen, ihm trotz seiner Hinfälligkeit ein Gefühl der Achtung zu geben, indem sie ihn nicht ansieht, ,,weil sie nicht ertragen konnte, daß er log."(Z.23) Und auch ohne diese Bloßstellung weiß der Mann um seine Hinfälligkeit, er schämt sich seines Verhaltens wegen, ,,sah wieder so sinnlos von einer Ecke in die andere" (Z.25f.) und tritt seiner Frau ,,unsicher" gegenüber.
Insofern beleuchtet Borchert also das Verhältnis der beiden zueinander bzw. setzt es ins rechte Licht.
Aber das Licht der Küchenlampe leuchtet nur für eine kurze Zeit, denn ,,Sie hob die Hand zum Lichtschalter." (Z.34), mußte das Licht ausmachen, um nicht nach dem Teller sehen zu müssen. Und diese Reaktion der Frau ist in diesem Sinne nicht so zu verstehen, als wolle sie sich über den Zustand ihrer Ehe, der ihr in einem einzigen Augenblick bewußt geworden ist, nunmehr schnell hinwegtäuschen. Ganz im Gegenteil sie erfaßt die sie beide peinlich berührende Lage schlagartig, was ihre Reaktion, ihr Verhalten aber in dieser Situation auszeichnet, ist die Tatsache, daß sie schweigend und rücksichtsvoll über sein Verhalten wie selbstverständlich hinwegsieht und ihm keine Vorhaltungen macht. Indem sie die Hinfälligkeit ihres Mannes einerseits erkennt, aber zugleich als solche akzeptiert und annimmt, beweist sie mit dem für sie scheinbar selbstverständlichen und alltäglichen Verhalten im Gegenteil menschliche Größe und Charakterstärke: Sie nutzt die Situation nicht aus, um ihrem Mann sein Fehlverhalten vorzuhalten, ihn bloßzustellen und ihm sein Selbstwertgefühl zu nehmen, sondern gibt ihm - indem sie ,,das Licht jetzt ausmacht" (Z.34), seine Lüge scheinbar nicht realisiert und sich schlafend stellt, ,, damit er nicht merken sollte, daß sie noch wach war" (Z.50f.) - ein Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit, durch das er mit all seinen Fehlern geachtet wird.
Und auch ,,am nächsten Abend" (Z.53) verhält sie sich auf diese entgegenkommende und ihren Mann unterstützende Weise, als sie ihm eine weitere Scheibe Brot hinlegt, nicht aber aus Eigeninteresse und des Triumphes willen, sondern um ihrem Mann zu helfen, so gibt sie an entsprechender Textstelle ausredend vor : ,,Ich kann dieses Brot nicht so recht vertragen." (Z.55)
Vom stilistischen und sprachlichen her schenkt Borchert diesem Verhalten seine Glaubwürdigkeit und Eindringlichkeit durch einen bewußt gewählten, dezenten und unpathetisch schlichten Erzählton. Diesen erreicht er u.a. mittels der durchgängig im Text verwendeten parataktischen Satzkonstruktionen , die gerade keine übermäßig variierten und `verschnörkelten` Satzmuster zulassen und somit jegliche Wirkung von Übertreibung und `Gekünsteltheit" vermissen lassen, damit aber auf den Leser um so eindringlicher und betonter wirken.
Außerdem greift Borchert gerade auch bei dem Verhalten der Frau - wie auch bei dem ihres Mannes - zu vielfachen Wiederholungsfiguren, wobei er gleichzeitig zu Aussparungen und Verkürzungen greift, durch die der Leser das Hintergründige der Geschichte zunächst selbst erschließen muß. Die verwendeten Wiederholungsfiguren - wie z.B. das Symbol des Lichtes; der Teller, von dem sie wegsieht; der mehrmals wiederholte Satz ,,Ich hab`auch was gehört" (Z.27) sowie auch der wiederkehrende Verweis auf das Wegsehen der Frau (vgl. Z.13f.) dienen demzufolge der eindringlichen, andeutenden und hinweisenden Umschreibungen dieses ausgesparten Hintergründigen. Der Hintergrund erscheint dem Leser auf diesem emotionalen, kürzeren und direkteren Weg der Wiederholungen leichter und wirksamer erschlossen als als eine bloße Aufzählung dieses. Die Funktion einer Schilderung oder möglichen Erklärung dieses Hintergrundes übernehmen in diesem Zusammenhang auch die verwendeten Adjektive.
Gleichzeitig erhalten die Aussparungen des Hintergründigen und die Wiederholungen noch eine Bedeutung, die z.T. über den Text hinaus auf die Nachkriegssituation verweist. Sie drücken eine gewisse Sehnsucht nach jenen hintergründigen und durch den Krieg und die Zeit des Nationalsozialismus verlorengegangenen Werten - wie z.B. der Humanität - aus.
So unterschiedlich und kontrastierend das Verhalten der beiden Ehepartner bis jetzt erscheinen mochte - der Übergriff des Mannes auf die Brotration der Frau und seine mangelnde Offenheit/ das fehlende Vertrauen einerseits , die Entscheidung der Frau, auf ihre zweite Scheibe zu verzichten und die ihren Mann rettende und verständnisvolle Hilfsbereitschaft andererseits - , so zeigt sich nun jedoch in der Reaktion der Mannes eine bedeutende Gemeinsamkeit: Denn auch der Mann durchschaut die Aussage der Frau als Ausrede, denn nur so läßt sich seine Reaktion erklären, daß er sich tief über den Teller beugt und nicht aufsieht (vgl.Z. 56f.). Beide sind also in unterschiedlicher Art von der Situation betroffen, beschämt und wollen den anderen nicht verletzen, ihn trotz der Fehler und Schwächen achten. Angesichts dieser Bedrücktheit empfindet die Ehefrau keine Genugtuung , sondern sie hat Mitleid mit ihm, ,,In diesem Augenblick tat er ihr leid."(Z. 57)
Parallel zum unmittelbar beginnenden Anfang gipfelt Borcherts streng linear erzählte und die weiteren Ereignisse im Leben des Ehepaares offen lassende Kurzgeschichte mit dem Finalsatz: ,,Erst nach einer Weile setzte sie sich unter die Lampe an den Tisch."
War es zu Beginn das Licht der Lampe, welches auf das den ´Konflikt` auslösende Verhalten des Mannes bzw. auf das Verhältnis beider Ehepartner fiel, so ist es zum Schluß nur noch das Verhalten der Frau, das für den Leser nachhaltig akzentuiert wird. Denn gerade das selbstverständlich entgegenkommende und den anderen achtende Handeln ist es, das die ´Konfliktsituation` auszugleichen, zu lösen vermag und damit - stellvertretend auch für das Verhalten aller Menschen - als Orientierung für das Handeln und Leben der Zukunft erscheint. Die Kurzgeschichte verdeutlicht die Möglichkeit , diese beiden Personen als Stellvertretend für den Menschen, die Gesellschaft an sich zu sehen, indem sie von ihnen ausschließlich in Form des Personalpronomens erzählt, sie also nicht durch eine einmalige, unaustauschbare Identität kennzeichnet. Gerade auch für den damaligen Leser, dem diese Lebensumstände nicht fremd waren, erscheint somit die Möglichkeit der Identifizierung oder Wiedererkennung mit bzw. in einem der Verhaltensweisen.
Borchert unterstreicht und betont diese herausragende Bedeutung des Schlusses, auf den die gesamte Kurzgeschichte zustrebt zudem einerseits durch die Verwendung einer temporeichen und sehr flüssig wirkenden Sprache, die unter anderem dadurch entsteht, daß er komplizierte Satzgefüge meidet und durch parataktische und z.T. asyndetisch aneinandergereihter Satzkonstruktionen umgeht (vgl. z.B. Z. 1-8 , wobei es sich hier in den Zeilen 7-8 nur noch um elliptische Satzfragmente handelt). Zum anderen schaffen die vielfachen, variierten und intensivierend wirkenden Wiederholungen und Reihungen von Kernbegriffen, Motiven, Einzelwörtern und Sätzen eine Eindringlichkeit, mit der gleichzeitig auf wichtige Bedeutungszentren von Einzelheiten verwiesen wird. Im Falle des letzten Satzes ist es das vielfach sich im Text wiederholende Symbol der Lampe bzw. des Lichtes, welches auf das jeweilige Verhalten der einzelnen Personen aufmerksam machen soll; für das Textverständnis wichtige Einzeldetails werden somit im bildlichen Sinne eingekreist.
Trotz oder gerade durch diese schlichte und einfache Sprache wirkt die Kurzgeschichte aber nicht formlos und vielleicht sogar unharmonisch. Der harmonische Gleichklang des Textes wird vielmehr durch die Verwendung von Parallelismen - wie z.B. in Zeile 7f. -, Alliterationen und der Wiederholungen erreicht.
Für den Leser zeichnet sich diese Kurzgeschichte somit einmal durch ihre Kürze ,und damit dann auch durch ihre Komplexität aus , welche durch das geschachtelt wirkende perspektivische Erzählen des Er-Erzählers zusätzlich unterstützt wird.
Der wegen seiner Kürze intensiv auf den Leser wirkende Text, der Aussparungen und Raffungen enthält und in dem das Dargestellte um so bedeutungsvoller wird, erreicht gleichzeitig auch eine Komplexität in der Deutungsmöglichkeit. Der Text ist somit betont leserbezogen und veranlaßt den Leser damit zum Mitdenken und zur Mitarbeit, die Aussparungen sinnvoll zu ergänzen , auszufüllen und Folgerungen zu ziehen .
Begünstigt wird diese Leserbezogenheit nun durch den zwischen auktorialem und personalem Erzählverhalten wechselnden Er- Erzähler , der an zahlreichen Stellen das Verhalten der beiden Personen in der direkten Rede des Dialogs vermittelt, womit eine Art Gegenwartsfiktion geschaffen wird .
Durch die Wiedergabe von inneren Vorgängen (vgl. z.B. die Verben ,,überlegte" und ,,dachte"), der Gedanken und Empfindungen der Personen wird dem Leser eine neue Deutungsebene erschlossen bzw. diese erst ermöglicht.
Tjadina Petersen
Anhand eines in Zeiten der Entbehrung und der materiellen wie auch existentiellen Not lebenden Ehepaares veranschaulicht Borchert auf indirektem Wege - eine direkte Benennung von Kriegs- oder Nachkriegsrealität erfolgt nicht, sie muß vielmehr vom Leser durch den Hinweis auf eine Zeit der Hungersnöte und der Lebensmittelrationierung (vgl. 53ff.) erschlossen werden - die zerstörenden Folgen des Krieges auf das Verhältnis dieser beiden Menschen zueinander. Im Mittelpunkt der Geschichte und als einziges Gegenbild zu dieser zerstörenden Wirkung steht das Verhalten der Frau, die mit ihrer verzeihenden und mitleidenden Geste als Ausdruck ihrer wahren Liebe oder Humanität ein Gefühl von Harmonie und Geborgenheit erzeugt: Trotz der Gewißheit, daß ihr Mann sie mit seinem Verhalten hintergangen und belogen hat, stellt sie ihn nicht bloß und verlangt ein Geständnis seiner Tat, sondern erkennt die für den Mann und sie selber beschämende Situation ,geht deshalb rücksichtsvoll auf seine Lüge ein und verzeiht ihm seine aus der Not des Hungers erfolgte Tat.
,,Plötzlich wachte sie auf". Mit diesem parataktischen Satz, der den Leser völlig unmittelbar, abrupt und ohne Einleitung mit dem Geschehen konfrontiert, läßt Borchert seine die krisenhafte Situation der beiden Eheleute ausschnitthaft darstellenden Kurzgeschichte beginnen. Er unterstreicht damit einerseits, daß es sich bei dem Dargestellten um ein für den einzelnen bedeutungsvolles und besonderes Ereignis handelt, welches sich ihm als plötzliche Grenzsituation auftut und eine Entscheidung zum Handeln erfordert, anderseits wird mit dieser Darstellungsweise auch eine gewisse Spannung und ein Interesse am Weiterlesen geschaffen.
Das Aufwachen der Frau erscheint hierbei gleichzeitig im übertragenen Sinne, nicht nur als ein Aufwachen durch ein Geräusch in der Küche hervorgerufen.
Denn genauso ,,plötzlich" muß sich die Frau damit konfrontiert sehen, daß sie von ihrem Mann hintergangen worden ist, wenn ihr in der Küche bewußt wird, wie er heimlich etwas von dem rationierten Brot genommen hat.
Das Licht, welches die Frau infolge der Dunkelheit anmacht und welches die Gestalten beider Ehepartner beleuchtet, sie in ihrer Beziehung zueinander gegenüberstellt, erscheint somit gleichsam als symbolisches Licht, das auf die Gemeinschaft der nunmehr schon seit neununddreißig Jahren verheiraten Menschen fällt.
Die Frau erkennt anhand ,,der Krümel auf dem Tuch" (Z.12), daß sich der Mann von dem ,,Brot abgeschnitten hatte" (Z.9f.), wie sie es auch später durch sein leises und vorsichtiges Kauen (vgl.Z.49) erkennen muß. Sie ist sich demnach bewußt, von ihrem Ehemann hintergangen und belogen worden zu sein. Zunächst ist es für die Frau ein Bewußtsein, welches sie völlig unvorbereitet gewahr wird und das in ihr ein Gefühl von Kälte erzeugt; ein Gefühl von Kälte, das symbolisch das mangelnde Vertrauen des Mannes und damit die fehlende Offenheit betont , welches der Frau als befremdlich, als Kälte in ihrer Beziehung erscheint.
Dennoch beabsichtigt sie in dieser Situation nicht, ihren Mann bloßzustellen, sondern sieht aus Liebe zu ihrem Mann ,,von dem Teller weg" (Z.13f.), um ihm nicht zu verletzen, ihm trotz seiner Hinfälligkeit ein Gefühl der Achtung zu geben, indem sie ihn nicht ansieht, ,,weil sie nicht ertragen konnte, daß er log."(Z.23) Und auch ohne diese Bloßstellung weiß der Mann um seine Hinfälligkeit, er schämt sich seines Verhaltens wegen, ,,sah wieder so sinnlos von einer Ecke in die andere" (Z.25f.) und tritt seiner Frau ,,unsicher" gegenüber.
Insofern beleuchtet Borchert also das Verhältnis der beiden zueinander bzw. setzt es ins rechte Licht.
Aber das Licht der Küchenlampe leuchtet nur für eine kurze Zeit, denn ,,Sie hob die Hand zum Lichtschalter." (Z.34), mußte das Licht ausmachen, um nicht nach dem Teller sehen zu müssen. Und diese Reaktion der Frau ist in diesem Sinne nicht so zu verstehen, als wolle sie sich über den Zustand ihrer Ehe, der ihr in einem einzigen Augenblick bewußt geworden ist, nunmehr schnell hinwegtäuschen. Ganz im Gegenteil sie erfaßt die sie beide peinlich berührende Lage schlagartig, was ihre Reaktion, ihr Verhalten aber in dieser Situation auszeichnet, ist die Tatsache, daß sie schweigend und rücksichtsvoll über sein Verhalten wie selbstverständlich hinwegsieht und ihm keine Vorhaltungen macht. Indem sie die Hinfälligkeit ihres Mannes einerseits erkennt, aber zugleich als solche akzeptiert und annimmt, beweist sie mit dem für sie scheinbar selbstverständlichen und alltäglichen Verhalten im Gegenteil menschliche Größe und Charakterstärke: Sie nutzt die Situation nicht aus, um ihrem Mann sein Fehlverhalten vorzuhalten, ihn bloßzustellen und ihm sein Selbstwertgefühl zu nehmen, sondern gibt ihm - indem sie ,,das Licht jetzt ausmacht" (Z.34), seine Lüge scheinbar nicht realisiert und sich schlafend stellt, ,, damit er nicht merken sollte, daß sie noch wach war" (Z.50f.) - ein Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit, durch das er mit all seinen Fehlern geachtet wird.
Und auch ,,am nächsten Abend" (Z.53) verhält sie sich auf diese entgegenkommende und ihren Mann unterstützende Weise, als sie ihm eine weitere Scheibe Brot hinlegt, nicht aber aus Eigeninteresse und des Triumphes willen, sondern um ihrem Mann zu helfen, so gibt sie an entsprechender Textstelle ausredend vor : ,,Ich kann dieses Brot nicht so recht vertragen." (Z.55)
Vom stilistischen und sprachlichen her schenkt Borchert diesem Verhalten seine Glaubwürdigkeit und Eindringlichkeit durch einen bewußt gewählten, dezenten und unpathetisch schlichten Erzählton. Diesen erreicht er u.a. mittels der durchgängig im Text verwendeten parataktischen Satzkonstruktionen , die gerade keine übermäßig variierten und `verschnörkelten` Satzmuster zulassen und somit jegliche Wirkung von Übertreibung und `Gekünsteltheit" vermissen lassen, damit aber auf den Leser um so eindringlicher und betonter wirken.
Außerdem greift Borchert gerade auch bei dem Verhalten der Frau - wie auch bei dem ihres Mannes - zu vielfachen Wiederholungsfiguren, wobei er gleichzeitig zu Aussparungen und Verkürzungen greift, durch die der Leser das Hintergründige der Geschichte zunächst selbst erschließen muß. Die verwendeten Wiederholungsfiguren - wie z.B. das Symbol des Lichtes; der Teller, von dem sie wegsieht; der mehrmals wiederholte Satz ,,Ich hab`auch was gehört" (Z.27) sowie auch der wiederkehrende Verweis auf das Wegsehen der Frau (vgl. Z.13f.) dienen demzufolge der eindringlichen, andeutenden und hinweisenden Umschreibungen dieses ausgesparten Hintergründigen. Der Hintergrund erscheint dem Leser auf diesem emotionalen, kürzeren und direkteren Weg der Wiederholungen leichter und wirksamer erschlossen als als eine bloße Aufzählung dieses. Die Funktion einer Schilderung oder möglichen Erklärung dieses Hintergrundes übernehmen in diesem Zusammenhang auch die verwendeten Adjektive.
Gleichzeitig erhalten die Aussparungen des Hintergründigen und die Wiederholungen noch eine Bedeutung, die z.T. über den Text hinaus auf die Nachkriegssituation verweist. Sie drücken eine gewisse Sehnsucht nach jenen hintergründigen und durch den Krieg und die Zeit des Nationalsozialismus verlorengegangenen Werten - wie z.B. der Humanität - aus.
So unterschiedlich und kontrastierend das Verhalten der beiden Ehepartner bis jetzt erscheinen mochte - der Übergriff des Mannes auf die Brotration der Frau und seine mangelnde Offenheit/ das fehlende Vertrauen einerseits , die Entscheidung der Frau, auf ihre zweite Scheibe zu verzichten und die ihren Mann rettende und verständnisvolle Hilfsbereitschaft andererseits - , so zeigt sich nun jedoch in der Reaktion der Mannes eine bedeutende Gemeinsamkeit: Denn auch der Mann durchschaut die Aussage der Frau als Ausrede, denn nur so läßt sich seine Reaktion erklären, daß er sich tief über den Teller beugt und nicht aufsieht (vgl.Z. 56f.). Beide sind also in unterschiedlicher Art von der Situation betroffen, beschämt und wollen den anderen nicht verletzen, ihn trotz der Fehler und Schwächen achten. Angesichts dieser Bedrücktheit empfindet die Ehefrau keine Genugtuung , sondern sie hat Mitleid mit ihm, ,,In diesem Augenblick tat er ihr leid."(Z. 57)
Parallel zum unmittelbar beginnenden Anfang gipfelt Borcherts streng linear erzählte und die weiteren Ereignisse im Leben des Ehepaares offen lassende Kurzgeschichte mit dem Finalsatz: ,,Erst nach einer Weile setzte sie sich unter die Lampe an den Tisch."
War es zu Beginn das Licht der Lampe, welches auf das den ´Konflikt` auslösende Verhalten des Mannes bzw. auf das Verhältnis beider Ehepartner fiel, so ist es zum Schluß nur noch das Verhalten der Frau, das für den Leser nachhaltig akzentuiert wird. Denn gerade das selbstverständlich entgegenkommende und den anderen achtende Handeln ist es, das die ´Konfliktsituation` auszugleichen, zu lösen vermag und damit - stellvertretend auch für das Verhalten aller Menschen - als Orientierung für das Handeln und Leben der Zukunft erscheint. Die Kurzgeschichte verdeutlicht die Möglichkeit , diese beiden Personen als Stellvertretend für den Menschen, die Gesellschaft an sich zu sehen, indem sie von ihnen ausschließlich in Form des Personalpronomens erzählt, sie also nicht durch eine einmalige, unaustauschbare Identität kennzeichnet. Gerade auch für den damaligen Leser, dem diese Lebensumstände nicht fremd waren, erscheint somit die Möglichkeit der Identifizierung oder Wiedererkennung mit bzw. in einem der Verhaltensweisen.
Borchert unterstreicht und betont diese herausragende Bedeutung des Schlusses, auf den die gesamte Kurzgeschichte zustrebt zudem einerseits durch die Verwendung einer temporeichen und sehr flüssig wirkenden Sprache, die unter anderem dadurch entsteht, daß er komplizierte Satzgefüge meidet und durch parataktische und z.T. asyndetisch aneinandergereihter Satzkonstruktionen umgeht (vgl. z.B. Z. 1-8 , wobei es sich hier in den Zeilen 7-8 nur noch um elliptische Satzfragmente handelt). Zum anderen schaffen die vielfachen, variierten und intensivierend wirkenden Wiederholungen und Reihungen von Kernbegriffen, Motiven, Einzelwörtern und Sätzen eine Eindringlichkeit, mit der gleichzeitig auf wichtige Bedeutungszentren von Einzelheiten verwiesen wird. Im Falle des letzten Satzes ist es das vielfach sich im Text wiederholende Symbol der Lampe bzw. des Lichtes, welches auf das jeweilige Verhalten der einzelnen Personen aufmerksam machen soll; für das Textverständnis wichtige Einzeldetails werden somit im bildlichen Sinne eingekreist.
Trotz oder gerade durch diese schlichte und einfache Sprache wirkt die Kurzgeschichte aber nicht formlos und vielleicht sogar unharmonisch. Der harmonische Gleichklang des Textes wird vielmehr durch die Verwendung von Parallelismen - wie z.B. in Zeile 7f. -, Alliterationen und der Wiederholungen erreicht.
Für den Leser zeichnet sich diese Kurzgeschichte somit einmal durch ihre Kürze ,und damit dann auch durch ihre Komplexität aus , welche durch das geschachtelt wirkende perspektivische Erzählen des Er-Erzählers zusätzlich unterstützt wird.
Der wegen seiner Kürze intensiv auf den Leser wirkende Text, der Aussparungen und Raffungen enthält und in dem das Dargestellte um so bedeutungsvoller wird, erreicht gleichzeitig auch eine Komplexität in der Deutungsmöglichkeit. Der Text ist somit betont leserbezogen und veranlaßt den Leser damit zum Mitdenken und zur Mitarbeit, die Aussparungen sinnvoll zu ergänzen , auszufüllen und Folgerungen zu ziehen .
Begünstigt wird diese Leserbezogenheit nun durch den zwischen auktorialem und personalem Erzählverhalten wechselnden Er- Erzähler , der an zahlreichen Stellen das Verhalten der beiden Personen in der direkten Rede des Dialogs vermittelt, womit eine Art Gegenwartsfiktion geschaffen wird .
Durch die Wiedergabe von inneren Vorgängen (vgl. z.B. die Verben ,,überlegte" und ,,dachte"), der Gedanken und Empfindungen der Personen wird dem Leser eine neue Deutungsebene erschlossen bzw. diese erst ermöglicht.
Tjadina Petersen
Die unwürdige Greisin
Die unwürdige Greisin
Die unwürdige Greisin ist eine Erzählung des deutschen Dichters und Dramatikers BertoltBrecht. Sie entstand Ende 1939. Er nahm sie 1949 in seine Kalendergeschichten auf.
Inhalt
In der Erzählung geht es um zwei Lebensabschnitte einer nun greisen Frau. Erzähler ist derenEnkel. Bis zum 72.Lebensjahr ist die Frau auf die Rolle als Mutter ihrer fünf Kinder und Hausfrau festgelegt. Mit dem Tod ihresMannes ändert sie ihr Leben schlagartig, sie beginnt die letzten Jahre ihres Lebens zu genießen, indem sie Kinos und Gasthöfe besucht und neue Freunde findet. Dass sie ein selbstbestimmtes Leben führt und sich kaum noch an Konventionen orientiert, empört besonders einen ihrer Söhne, einen Buchdrucker, dessen Familie sehr bescheiden leben muss. Er erwartet, dass sich seine Mutter auch für ihre Enkel aufopfert. Schließlich stirbt die Greisin im Alter von 74 Jahren.Die Erzählung kritisiert die Geschlechtsrollen und insbesondere die Rollenzuweisung an Mütter und Großmütter,
von denen Verzicht, Unterordnung und Aufopferung erwartet wird. Selbstbestimmung bei Frauen, insbesondere bei älteren Frauen, wird von der "gutbürgerlichen Gesellschaft" voller Misstrauen und letztendlich als unwürdig angesehen. Genau betrachtet lebte sie hintereinander zwei Leben. Das eine, erste, als Tochter, als Frau und als Mutter, und das zweite einfach als Frau B. [..] Das erste Leben dauerte etwa sechs Jahrzehnte, das zweite nicht mehr
als zwei Jahre.[1] .Die Erzählung hat wahrscheinlich einen autobiographische Hintergrund, der nach neuerer Forschung mit der Handlung jedoch nur sehr vage Berührungspunkte hat. Brechts eigene Großmutter Karoline, die in Achern lebte, wäre 1939 einhundert Jahre alt geworden[2] .Verfilmungen
• 1964 wurde der Stoff vom französischen Regisseur René Allio erfolgreich unter dem Titel Die unwürdige Greisin
(Originaltitel: La vieille dame indigne) mit Sylvie und Victor Lanoux in den Hauptrollen verfilmt.
• 1985 gab es eine Produktion des DDR-Fernsehens[3] , Regie: Karin Hercher, mit Hanne Hiob und Ekkehard
Schall.
Einzelnachweise
[1] Bertolt Brecht: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Suhrkamp 1988-1999, Bd.18 S.431
[2] Jan Knopf (Hrsg): Brecht Handbuch. J.B.Metzler, Stuttgart 2002, Bd. 3 S.355ff
[3] Ana Kugli, Michael Opitz (Hrsg): Brecht Lexikon. Stuttgart und Weimar 2006, S.92
Weblinks
• Der Text der Erzählung (http:/ / www. carelounge. de/ altenarbeit/ unterhaltung/ prosa_brecht. php)
• Die unwürdige Greisin in der deutschen (http:/ / www. imdb. de/ title/ tt0059875) und englischen (http:/ / www.
imdb. com/ title/ tt0059875) Version der Internet Movie Database
Quelle(n) und Bearbeiter des/der Artikel(s) 2
Quelle(n) und Bearbeiter des/der Artikel(s)
Die unwürdige Greisin Quelle: http://de.wikipedia.org/w/index.php?oldid=78585249 Bearbeiter: Birnkammer fabian, Cethegus, Conny, Creet, César, Der.Traeumer, Frosty79, G.hooffacker,
Geher, GeorgHH, Goodgirl, Grommel, Lino Wirag, Magiers, Philipendula, Regi51, Roterraecher, Seidenkäfer, Tets, Umweltschützen, Wst, Xocolatl, 16 anonyme Bearbeitungen
28 Nisan 2011 Perşembe
Paul Schallück - Unser Eduard
„Er war mein Sohn, mein einziger. Ich begreife es nicht. Sie gehen durchs Haus und flüstern viel, seine Mutter und seine Schwester. Wenn ich heimkomme, verstummen sie. Betrete ich das Zimmer, blicken sie nicht auf. Bei Tisch fällt kaum ein Wort. Sie schweigen mich an, sie strafen mich. Bin ich denn Schuld? War ich zu streng? Ich musste streng sein. Er war sehr begabt, aber verspielt, zu weich; verwöhnt worden von denen, die jetzt schweigen. Als er vierzehn wurde, durfte er mit an die Costa Brava. Von da an übernahm ich seine Erziehung. Er wollte ein Schlauchboot. Ich sagte: Lerne schwimmen, dann bekommst du eins. Er lernte es in einer Woche. So wollte ich ihn vorbereiten auf des Leben. Er musste begreifen, dass ihm nichts geschenkt wurde. Auch mir hat niemand etwas geschenkt. Das sagt ich ihm, als er sechzehn war, wie ich mich abgemüht, den Betrieb aufgebaut, ihn selbständig erhalten hatte. Für ihn. Er wird stolz sein auf seinen Vater, ihm nacheifern, dachte ich. Die Schule fiel ihm leicht. Wenn er Lust hatte, war er der Beste in seiner Klasse. Nur, er hatte nicht immer Lust. Ein Sonnenstrahl konnte ihn ablenken oder ein Buch, ein Schnupfen schon und erst recht ein Fußballänderspiel. Wie besessen lief er Tag für Tag zum Fußballplatz und vergaß die Schulaufgaben. Ich schloss die Fußballschuhe ein, und er lernte wieder, für ein paar Wochen. Dann begann er, Trompete zu blasen. Er schrieb Gedichte, kletterte in die Berge und sammelte Steine, ersparte und erbettelte sich ein Fernrohr und beobachtete die Sterne in langen Nächten, tauschte das Rohr gegen ein Moped ein, raste durch die Gartenstadt, ließ die Maschine verrosten, malte abstrakt, züchtete Fische. Alles für ein paar Wochen. So wechseln viele Jungen ihre Neigungen, ich weiß. Er aber vergaß darüber seine Pflichten.
Er wurde siebzehn und achtzehn und hatte noch immer nicht gelernt, sich zu konzentrieren. Dann entdeckte er die Mädchen und kam zum ersten Male mit einer Fünf nach Haus. Nach jeder erloschenen Begeisterung redete ich ihm ins Gewissen, drohte, kürzte sein Taschengeld, sperrte den Ausgang, nahm ihn während der Osterferien in den Betrieb, ins Labor. Wenn ich ihn ins Gebet nahm, sah er ein, wie fahrig er dahinlebte, jedem Winde nach, und versprach, härter zu werden. Wenn ich ihn strafte, weinte er; ein aufgeschossener, achtzehnjähriger Bursche. Im letzten Sommer dann fuhren seine Mutter und seine Schwester allein an die Costa Brava. Ich blieb mit ihm zu Haus. Wir erarbeiteten einen Stundenplan, und ich erklärte: Deine letzte Chance, Eduard; wirst du nicht in die Oberprima versetzt, nehme ich dich von der Schule. Ein Ultimatum. Ob ich es wahrgemacht hätte, weiß ich nicht. Ihn jedenfalls hat es erschreckt, ich gebe es zu. Aber durfte ich ihn nicht einschüchtern? Wie hätte er sonst ein tüchtiger Mensch werden können und das Leben bestehen? Musste ich denn voraussehen, dass es ihn zermürben würde? Bin ich deswegen schuld an deinem Tod, Eduard? Ich kann es nicht glauben. Du warst ungezügelt von Natur aus, du konntest dich nicht beherrschen. Es war eine Kurzschlusshandlung, Eduard. Ein paar schlechter Noten wegen springt man nicht von der Brücke. Dafür wirft man doch sein Leben nicht weg, Eduard, mein Junge!“
„Edi war mein Junge, mein einziger Sohn, und er war ein guter Junge, das schwöre ich zu Gott, denn wer sollte das besser beurteilen können als ich, seine Mutter, die er verlassen hat, weil er mit einer unergründbaren Leidenschaft eigensinnig war und etwas suchte, schon als kleiner Junge, denn schon als kleiner Junge wollte er alles oder nichts. So war er veranlagt, mein Edi, nicht anders: Alles oder nichts. Wenn sein Vater meint, er sei von Natur aus ungezügelt gewesen und habe sich die neunzehn Jahre seines Lebens nur gehen lassen und sich niemals konzentrieren können, wie es wohl den Anschein haben möchte, wenn man ihn von einem festen Standpunkt aus beobachtete, oder was sein Vater sich sonst noch bereitgelegt hat, um das Ungeheure zu erklären, dann kann ich nur sagen: Sein Vater folgt einer falschen Spur. Edi war ein ernster Junge, viel zu ernst sogar für sein Alter, und er war es von Kind an, ich habe ihn nur selten lachen gesehen, denn, obwohl es schien, als flattere er jedem Winde nach, war er doch jedes Mal mit einem Ernst am Werk, der mich besorgt und ihn besessen machte. Er suchte etwas, von dem ich lange nicht ahnte, was es war, bis er eines Tages, er mochte zehn gewesen sein oder elf, aus der Kirche kam und sagte, sehr ernst, aber ohne ein Zeichen der Erregung: "Weißt du, Mutter, ich könnte mir das Leben nehmen.’ Ich war verblüfft und erschrocken und habe ihn ausgelacht, sodass er wütend wurde und mich anfuhr: "Lach nicht, lach nicht, ich könnte mir wirklich das Leben nehmen!’ – "Aber warum denn, mein Junge?’ fragte ich dann endlich. Und er blickte mich an wie ein sehr alter Mann: "Um zu wissen, wer Gott ist’, sagte er. Ich hatte das vergessen. Jetzt sehe ich ihn wieder vor mir und höre ihn sprechen, und ich glaube fest, dass er wahrgemacht hat, worüber ich gelacht habe. Mit Verbissenheit hat er gesucht, sein Leben lang und überall, einen Halt meinetwegen, wenngleich ich behaupte: Er hat Gott gesucht, überall, in seinen Gedichten so gut wie auf dem Fußballplatz, in der Geschwindigkeit seines Mopeds und in den Steinen und unter den Sternen und in der Farbe und unter den Fischen und in der Musik. Auch bei den Mädchen. Gesucht und gesucht und doch nicht recht gewusst, was er zu finden hoffte in alldem, was ihn reizte und so rasch hinter ihm zurückblieb, ausgelaugt und weggeworfen, weil er nicht fand, was er suchte, und da er sich vermutlich des Satzes nicht erinnerte, den ich ihn noch immer sprechen höre. Die schlechten Noten haben damit wenig zu schaffen. Denn am Morgen hatte der Mathematiklehrer ihnen das Einsteinsche Weltbild erklärt und gesagt, die Welt sei endlos, aber nicht unbegrenzt, oder so ähnlich, und Edi hatte zugehört wie einem neuen Evangelium und dann mit kalter Stimme gefragt, wo denn in dieser Welt Gott noch seinen Platz habe, und der Mathematiklehrer hatte ihn lächelnd an den Religionslehrer verwiesen, und am Mittag dann hat er sich von den Schulkameraden gelöst und ist allein zur Brücke gegangen und hat das Letzte versucht, um zu finden, was er suchte. Du wolltest alles oder nichts, Edi, mein Junge, aber das war nicht richtig, es lässt sich ja nicht zwingen, ein bisschen Demut hat dir gefehlt und ein bisschen Vertrauen zu deiner Mutter, warum bist du nicht zu mir gekommen, Edi, warum nicht, warum denn nicht zu deiner Mutter, Edi?“
„Ed, mein kleiner Bruder, war ein Junge wie andere, ein bisschen begabter vielleicht und feiner gesponnen, das war aber auch der einzige Unterschied. Er spielte gern, saß gern auf einer schnellen Maschine, wechselte seine Hobbys, tat alles, was andere Jungen tun. Er war ja viel jünger als seine Jahre. Erst als er den Mädchen begegnete, begann seine Not. Er war prächtig gewachsen, der Ed, und er konnte an jeder Hand zehn haben und hatte sie auch. Nur, er war nie zufrieden. Was sie ihm gaben – und das war nicht wenig, es war alles in ihren Augen – , es genügte ihm nicht. Er verlangte mehr, Liebe verlangte er, obwohl er selbst es vermutlich nicht wusste, das Wort jedenfalls gebrauchte er nie. Liebe von Mädchen, die nicht wissen, was das ist. Daran ist er zerbrochen. Er war ja noch nicht ausgereift, geistig, meine ich. In seiner Klasse gab es zwei Mädchen. Die kicherten, als ihm mitgeteilt wurde, es sei nicht sicher, ob er mit den schlechten Noten versetzt werden könne. Das Kichern war sein Verhängnis. Wir achten zu selten auf die kleinen Dinge, ein Wort, ein Blick, eine Geste oder ein Kichern, besonders in Eds Jahren. Die Mädchen haben ihn auf dem Gewissen, aber sie wissen es nicht. Unschuldig wie kleine Tiere.“
„Unsinn. Mein Freund Eddi, mit doppeltem D, der suchte nicht mehr, nirgendwo und nichts, er ließ sich von einem Kichern nicht umwerfen. Der hatte längst gefunden. Er wusste, was er wollte, wie wir alle. Er wusste längst, dass alles keinen Sinn hat. Er probierte noch ein bisschen, mal hier, mal da. Aber es war gleichgültig, ob er auf dem Moped lag oder auf einem Mädchen. Es interessierte ihn so lange, wie es dauerte. Dann war’s vorbei und langweilte ihn. Ich bin genauso, drum weiß ich es. Was er anfasste, gelang, aber es machte ihm keinen Spaß. Es hatte doch alles keinen Sinn. Was soll das alles? Die schlechten Noten hätte er bis zur Versetzung mit der linken Hand korrigiert. Daß er’s an diesem Tag getan hat, war nur, um die Alten auf die falsche Spur zu locken. Der beste Schüler der Klasse verübt Selbstmord ein paar schlechter Noten wegen.
Das ist paradox, das liebte er. Ich beneide ihn, weil er härter war als wir alle, weil er den Mut gehabt hat, wozu ich nie den Mut haben werde. So war unser Eddi, mit doppeltem D.“
Er wurde siebzehn und achtzehn und hatte noch immer nicht gelernt, sich zu konzentrieren. Dann entdeckte er die Mädchen und kam zum ersten Male mit einer Fünf nach Haus. Nach jeder erloschenen Begeisterung redete ich ihm ins Gewissen, drohte, kürzte sein Taschengeld, sperrte den Ausgang, nahm ihn während der Osterferien in den Betrieb, ins Labor. Wenn ich ihn ins Gebet nahm, sah er ein, wie fahrig er dahinlebte, jedem Winde nach, und versprach, härter zu werden. Wenn ich ihn strafte, weinte er; ein aufgeschossener, achtzehnjähriger Bursche. Im letzten Sommer dann fuhren seine Mutter und seine Schwester allein an die Costa Brava. Ich blieb mit ihm zu Haus. Wir erarbeiteten einen Stundenplan, und ich erklärte: Deine letzte Chance, Eduard; wirst du nicht in die Oberprima versetzt, nehme ich dich von der Schule. Ein Ultimatum. Ob ich es wahrgemacht hätte, weiß ich nicht. Ihn jedenfalls hat es erschreckt, ich gebe es zu. Aber durfte ich ihn nicht einschüchtern? Wie hätte er sonst ein tüchtiger Mensch werden können und das Leben bestehen? Musste ich denn voraussehen, dass es ihn zermürben würde? Bin ich deswegen schuld an deinem Tod, Eduard? Ich kann es nicht glauben. Du warst ungezügelt von Natur aus, du konntest dich nicht beherrschen. Es war eine Kurzschlusshandlung, Eduard. Ein paar schlechter Noten wegen springt man nicht von der Brücke. Dafür wirft man doch sein Leben nicht weg, Eduard, mein Junge!“
„Edi war mein Junge, mein einziger Sohn, und er war ein guter Junge, das schwöre ich zu Gott, denn wer sollte das besser beurteilen können als ich, seine Mutter, die er verlassen hat, weil er mit einer unergründbaren Leidenschaft eigensinnig war und etwas suchte, schon als kleiner Junge, denn schon als kleiner Junge wollte er alles oder nichts. So war er veranlagt, mein Edi, nicht anders: Alles oder nichts. Wenn sein Vater meint, er sei von Natur aus ungezügelt gewesen und habe sich die neunzehn Jahre seines Lebens nur gehen lassen und sich niemals konzentrieren können, wie es wohl den Anschein haben möchte, wenn man ihn von einem festen Standpunkt aus beobachtete, oder was sein Vater sich sonst noch bereitgelegt hat, um das Ungeheure zu erklären, dann kann ich nur sagen: Sein Vater folgt einer falschen Spur. Edi war ein ernster Junge, viel zu ernst sogar für sein Alter, und er war es von Kind an, ich habe ihn nur selten lachen gesehen, denn, obwohl es schien, als flattere er jedem Winde nach, war er doch jedes Mal mit einem Ernst am Werk, der mich besorgt und ihn besessen machte. Er suchte etwas, von dem ich lange nicht ahnte, was es war, bis er eines Tages, er mochte zehn gewesen sein oder elf, aus der Kirche kam und sagte, sehr ernst, aber ohne ein Zeichen der Erregung: "Weißt du, Mutter, ich könnte mir das Leben nehmen.’ Ich war verblüfft und erschrocken und habe ihn ausgelacht, sodass er wütend wurde und mich anfuhr: "Lach nicht, lach nicht, ich könnte mir wirklich das Leben nehmen!’ – "Aber warum denn, mein Junge?’ fragte ich dann endlich. Und er blickte mich an wie ein sehr alter Mann: "Um zu wissen, wer Gott ist’, sagte er. Ich hatte das vergessen. Jetzt sehe ich ihn wieder vor mir und höre ihn sprechen, und ich glaube fest, dass er wahrgemacht hat, worüber ich gelacht habe. Mit Verbissenheit hat er gesucht, sein Leben lang und überall, einen Halt meinetwegen, wenngleich ich behaupte: Er hat Gott gesucht, überall, in seinen Gedichten so gut wie auf dem Fußballplatz, in der Geschwindigkeit seines Mopeds und in den Steinen und unter den Sternen und in der Farbe und unter den Fischen und in der Musik. Auch bei den Mädchen. Gesucht und gesucht und doch nicht recht gewusst, was er zu finden hoffte in alldem, was ihn reizte und so rasch hinter ihm zurückblieb, ausgelaugt und weggeworfen, weil er nicht fand, was er suchte, und da er sich vermutlich des Satzes nicht erinnerte, den ich ihn noch immer sprechen höre. Die schlechten Noten haben damit wenig zu schaffen. Denn am Morgen hatte der Mathematiklehrer ihnen das Einsteinsche Weltbild erklärt und gesagt, die Welt sei endlos, aber nicht unbegrenzt, oder so ähnlich, und Edi hatte zugehört wie einem neuen Evangelium und dann mit kalter Stimme gefragt, wo denn in dieser Welt Gott noch seinen Platz habe, und der Mathematiklehrer hatte ihn lächelnd an den Religionslehrer verwiesen, und am Mittag dann hat er sich von den Schulkameraden gelöst und ist allein zur Brücke gegangen und hat das Letzte versucht, um zu finden, was er suchte. Du wolltest alles oder nichts, Edi, mein Junge, aber das war nicht richtig, es lässt sich ja nicht zwingen, ein bisschen Demut hat dir gefehlt und ein bisschen Vertrauen zu deiner Mutter, warum bist du nicht zu mir gekommen, Edi, warum nicht, warum denn nicht zu deiner Mutter, Edi?“
„Ed, mein kleiner Bruder, war ein Junge wie andere, ein bisschen begabter vielleicht und feiner gesponnen, das war aber auch der einzige Unterschied. Er spielte gern, saß gern auf einer schnellen Maschine, wechselte seine Hobbys, tat alles, was andere Jungen tun. Er war ja viel jünger als seine Jahre. Erst als er den Mädchen begegnete, begann seine Not. Er war prächtig gewachsen, der Ed, und er konnte an jeder Hand zehn haben und hatte sie auch. Nur, er war nie zufrieden. Was sie ihm gaben – und das war nicht wenig, es war alles in ihren Augen – , es genügte ihm nicht. Er verlangte mehr, Liebe verlangte er, obwohl er selbst es vermutlich nicht wusste, das Wort jedenfalls gebrauchte er nie. Liebe von Mädchen, die nicht wissen, was das ist. Daran ist er zerbrochen. Er war ja noch nicht ausgereift, geistig, meine ich. In seiner Klasse gab es zwei Mädchen. Die kicherten, als ihm mitgeteilt wurde, es sei nicht sicher, ob er mit den schlechten Noten versetzt werden könne. Das Kichern war sein Verhängnis. Wir achten zu selten auf die kleinen Dinge, ein Wort, ein Blick, eine Geste oder ein Kichern, besonders in Eds Jahren. Die Mädchen haben ihn auf dem Gewissen, aber sie wissen es nicht. Unschuldig wie kleine Tiere.“
„Unsinn. Mein Freund Eddi, mit doppeltem D, der suchte nicht mehr, nirgendwo und nichts, er ließ sich von einem Kichern nicht umwerfen. Der hatte längst gefunden. Er wusste, was er wollte, wie wir alle. Er wusste längst, dass alles keinen Sinn hat. Er probierte noch ein bisschen, mal hier, mal da. Aber es war gleichgültig, ob er auf dem Moped lag oder auf einem Mädchen. Es interessierte ihn so lange, wie es dauerte. Dann war’s vorbei und langweilte ihn. Ich bin genauso, drum weiß ich es. Was er anfasste, gelang, aber es machte ihm keinen Spaß. Es hatte doch alles keinen Sinn. Was soll das alles? Die schlechten Noten hätte er bis zur Versetzung mit der linken Hand korrigiert. Daß er’s an diesem Tag getan hat, war nur, um die Alten auf die falsche Spur zu locken. Der beste Schüler der Klasse verübt Selbstmord ein paar schlechter Noten wegen.
Das ist paradox, das liebte er. Ich beneide ihn, weil er härter war als wir alle, weil er den Mut gehabt hat, wozu ich nie den Mut haben werde. So war unser Eddi, mit doppeltem D.“
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